THE FUTURE OF HEALTHCARE III – Von Gepflegt zu Gepflogen: Aktueller Stand, Akzeptanz und Aussichten der digitalen Transformation in der Pflege
Würzburg, 11. September 2018
Bereits zum dritten Mal fand am 11. September 2018 eine Veranstaltung aus der Reihe „The Future of Healthcare“ statt, die das Thema „Pflege“ in den Mittelpunkt rückte.
Die Veranstalter ZD.B, Forum MedTech Pharma und Healthcare Futurists luden in die Zehntscheune des Juliusspital in Würzburg ein. Prof. Reiners, der wissenschaftliche Sprecher der Themenplattform Digitale Gesundheit/Medizin des ZD.B, führte in seiner Begrüßung aus, in welch historischer Umgebung sich die Teilnehmer befanden, kann man doch das Juliusspital als eine der ältesten Universitätskliniken Deutschlands bezeichnen.
Unter dem Titel „Von Gepflegt zu Gepflogen: Aktueller Stand, Akzeptanz und Aussichten der digitalen Transformation in der Pflege“ haben Akteure aus der Pflege, Anbieter von digitalen Innovationen für die Pflege und Wissenschaftler, die sich mit dem Thema Pflege intensiv beschäftigen, aufrüttelnde, inspirierende und spannende Vorträge gehalten und intensiv mit den Teilnehmern diskutiert. Als roter Faden spann sich durch alle Vorträge und Diskussionsbeiträge, dass Assistenzsysteme, clevere Technologien und intelligente Plattformen helfen bzw. helfen können und sogar müssen, die Herausforderungen in der Pflege zu meistern.
Den Reigen der Vorträge eröffnete Julian-Anselm Bayer von der Bayerischen Pflegeakademie indem er die aktuellen Zahlen der demografischen Entwicklung, der Pflegebedürftigkeit in der Zukunft, der Personal- und Ausbildungssituation jetzt und zukünftig sowie die pflegepolitischen Anforderungen der kommenden Jahre darstellte. In 2015 wurden 72 % der pflegebedürftigen Personen zu Hause von Angehörigen gepflegt, davon 48 % alleine durch die Angehörigen und 24 % unter Miteinbezug eines ambulanten Pflegedienstes. Lediglich 27 % der Personen mit Pflegegrad wurden stationär gepflegt.
Frau Sabine Distler, die mit der Curatorium Altern gestalten gGmbH durch aktive Beiträge und Wissenstransfer eine zukunftsorientierte Gestaltung des Alterns und des Alters fördert, stellte verschiedene interessante Aussagen aus Studien vor. So z.B. sehen pflegende Angehörige den Einsatz von Technologie in der Pflege zum Teil anders als ausgebildete Pflegekräfte. Ihr Fazit ist „Wir brauchen individuelle und systematische Beratungs- und Begleitansätze. Der pflegenden Angehörige hat keine Vorbehalte (gegen Technik), sondern benötigt Unterstützung.“
Herr Thomas Oeben, dein nachbar e.V., stellte als Lösung für den Pflegenotstand den Aufbau von effizienten Versorgungstrukturen vor. Durch die Arbeitsteilung von professionellen Pflegekräften und Laienhelfer, kann ein flächendeckendes soziales Unterstützungsnetzwerk aufgebaut werden. Die geschulten ehrenamtlichen Laienhelfer übernehmen dabei Aufgaben wie Begleitdienste, hauswirtschaftliche Unterstützung oder die Betreuung von Gruppen. Durch ein ausgeklügeltes Dispositionssystem können die Helfer zielgerichtet und sinnvoll eingesetzt werden. Dies erleichtert den professionellen Kräften die Organisation einer solchen Unterstützung und die Ehrenamtlichen können bestimmen wann und wo sie sich engagieren möchten.
Eine weitere Möglichkeit, wie dem demographischen Wandel begegnet werden kann, hat Thomas Müller mit seiner jungen Firma curassist GmbH gefunden, indem er die „Pflegekräfte digitalisiert“. Im Prinzip geht es um ein Unterstützungssystem, so dass Pflegekräfte individuell auf selbständiger Basis sich optimal ihrem Beruf widmen können und auch die Versorgung von Patienten in ggfs. für ambulante Pflegedienste wenig wirtschaftlichen Gebieten, bspw. im ländlichen, dünn besiedelten Raum, gesichert ist. Curassist übernimmt für die freiberuflichen Pflegekräfte die komplexe Kassen-Anmeldung und -Abrechnung, ist Patientenverwaltungs- und Dokumentationssystem, generiert die Leistungsnachweise, realisiert die Qualitätssicherung und gewährt eine wirksame Unterstützung bzgl. der Einhaltung aller Richtlinien und beinhaltet Schulungs- und Marketing-Module. Die curassist-Plattform ist darauf ausgelegt, sämtliche Pflegekräfte in Deutschland verwalten zu können und könnte die heute sehr aufwendige Prüfung jeder Patienten/Pflegekraft-Kombination zentral für alle Kassen übernehmen. Dadurch könnte wirksam Bürokratie abgebaut werden.
Auch das niederländische Unternehmen Verklizan – mit einer Niederlassung auch in Deutschland – hat sich mit ihrer intelligenten Plattform für Ruf- und Servicezentralen dem Thema Healthcare in neuen Dimensionen verschrieben. Das Ziel ist eine hochwertige Betreuung zu erschwinglichen Preisen, indem wichtige Informationen jederzeit, überall und an jedem Ort geteilt werden. Die UMO-Plattform wird von 1.400.000 Teilnehmern in 334 Organisationen in 18 Ländern, u.a. auch in Deutschland, verwendet. Die integrierten Services sind zahlreich und reichen von Hausnotruf über Gerätemanagement/Integration von Wearables, Telecare, Videomonitoring, mobile Alarmierung bis zu einem umfangreichen Reporting mit informativen Auswertungen. Durch die Kombination von Daten aus Data Mining, Telemedizin und Wohlbefinden sind koordinierte und wirksame Präventionsmaßnahmen möglich und es können Hochrisikopatienten bezüglich der ausgelösten Notrufe gezielt und individuell betreut werden.
Armar, Asimo, Care-o-bot, Hobbit, Paro, Pepper, Nao und roreas: Dr. Andreas Keibel, KUKA Deutschland GmbH, stellte die verschiedenen Robotik-Entwicklungen der letzten Jahre und das Engagement von KUKA in diesem Bereich vor und hob vor allem die die Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung in der Pflege durch Robotik hervor. Wobei unter das weite Feld der Robotik z.B. auch intelligente, mit Sensorik, Tablett und Apps ausgestattete Rollatoren gehören, die eine integrierte Sturzerkennung und -ortung ermöglichen und ein fernsteuerbares Telepräsenzsystem darstellen sowie (nicht humanoide) Logistikroboter für das automatisierte Transportieren großer Container mit Wäsche, Essen oder Pflegematerialien. „Aktuelle Einsatzfelder und Zukunftspotentiale bzgl. Robotik zur Pflegeunterstützung im häuslichen und stationären Umfeld“– das war das Thema des nächsten angekündigten Vortrags von Frau Dr. Birgit Graf, Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. Da Frau Dr. Graf leider erkrankt war, aber Herr Dr. Keibel mit Frau Dr. Graf eng zusammenarbeitet, hat Herr Keitel die Inhalte des Vortrags von Frau Graf und die Entwicklungen und Projekte aus dem Fraunhofer Institut mit vorgestellt.
Die Teilnehmer erhielten dadurch einen ziemlich kompletten Überblick, was Roboter in der Pflege leisten können bzw. könnten. Die Potentiale wurden von Herrn Dr. Keibel eindrucksvoll dargestellt. Seine Darstellungen, dass Innovationen in der Automobilindustrie oder in der Pharmaindustrie den Eingang in den Markt immer oder zumindest meistens finden und warum dies in der Pflege anders ist – Dr. Keibel sprach vom Innovationsstau in einem komplexen, hochregulierten Umfeld – haben bei vielen Teilnehmern hohe Aufmerksamkeit gefunden, ist dies doch der Dreh- und Angelpunkt, wie nun die markfähigen und in vielfältigen Forschungsprojekten entwickelten und einsetzbaren technologiebasierten Assistenzsysteme tatsächlich in den Einsatz kommen.
Dieser Frage wird sich intensiv das neue Pflegepraxiszentrum Nürnberg widmen. In diesem, mit Fördermitteln des BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) gefördertem Vorhaben, soll der Einsatz neuartiger Pflegetechnologien erlebbar gemacht und Pflegeinnovationen unter Real-Life-Bedingungen evaluiert werden. Da hiermit neue Produkte und Assistenzsysteme im direkten Einsatz in einem Pflegeheim umfangreich getestet und mit wissenschaftlichen Auswertungen begleitet werden, kann dieser Ansatz als optimal angesehen werden, um Innovationen, die sowohl bei den Pflegekräften als auch den Pflegebedürftigen Anklang gefunden haben und sich bewährt haben, in die praktische Anwendung zu bringen.
Ein Produkt, das kurz vor der Markteinführung und damit dem praktischen Einsatz steht und auch im Pflegepraxiszentrum Nürnberg evaluiert werden wird, ist das moio-Care-System, das von Jürgen Besser, Geschäftsführer der MOIO GmbH, nachfolgend vorgestellt wurde. Das moio ist ein dünnes, weiches und flexibles Sensormodul, das mit Hilfe einer Pflastertasche von Pflegebedürftigen direkt am Körper getragen wird. Vorgesehen ist der Einsatz zur Dekubitus- und Sturzprävention sowie zur Sturzerkennung. Das System liefert ein Aktivitätsprofil an die Pflegekraft oder die pflegenden Angehörigen. Weitere Funktionen sind virtuelles Geofencing indoor und outdoor, das Alarm gibt, wenn desorientierte Menschen definierte Zonen verlassen. Das führt zu größerer Bewegungsfreiheit bei Betroffenen und Betreuenden und stellt eine starke Entlastung für beide Personengruppen dar. Durch die aktive Ortung ermöglicht das moio.care System jederzeit, die Position eines desorientierten Menschen genau zu ermitteln. Die patentierte Lösung moio.care ist für die häusliche Versorgung durch Angehörige ohne oder mit Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst konzipiert und kann auch in die stationäre Pflege integriert werden.
Angesichts der Realität kamen wir leider nicht umhin, auch einen Übersichtsvortrag über Innovationsbarrieren vorzusehen, die ja auch in vielen anderen Vorträgen schon anklangen. Dr. Michael Schneider, Wilhelm Löhe Hochschule, stellte die komplexe Situation eindrücklich und anschaulich dar, zeigte aber auch neue Ansätze auf, z.B. indem man von einer technikorientierten Einteilung von Technologien in der Pflege auf eine versorgungsorientierte Einteilung übergeht. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff könnte zudem ein starker neuer Impuls im Hinblick auf die Evaluation von technischen Lösungen sein.
Der letzte Vortrag der Veranstaltung von Prof. Karsten Weber, OTH Regenburg, hatte den Titel „Eine Reise in die Pflegezukunft – Chancen und Risiken der digitalisierten Pflege“. Abgeleitet von den Aspekten des demografischen Wandels in Deutschland formulierte Prof. Weber die Erwartungen und Hoffnungen, die an die (digitalisierte) Technik in der Pflege gestellt werden, als da sind: zur Kostendämpfung im Pflege- und Gesundheitsversorgungssystem beitragen, dem Arbeitskräftemangel abhelfen, die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegedienst ebenso wie die informell Pflegenden von der Verrichtung physisch und/oder psychisch anstrengender Tätigkeiten entlasten, die Versorgung mit Gesundheits- und Pflegedienstleistungen auch in dünn besiedelten bzw. abgelegenen Regionen sicherstellen, pflege- und hilfsbedürftigen Menschen solange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen und neue Märkte öffnen und damit wohlstandsfördernd oder zumindest wohlstandssichernd wirken. Und er stellt die Frage „Können diese Erwartungen und Hoffnungen tatsächlich erfüllt werden – bzw. ohne normative Spannungen erfüllt werden?“ Er benennt die Skepsis, auf die (digitalisierte) Technik in der Pflege in Praxis und Wissenschaft trifft. Benennt zudem, dass in verschiedenen Berichten fehlende empirische Wirksamkeitsstudien oder fehlende Nutzennachweise in der Praxis als Grund für die mangelnde Bereitschaft von Leistungsträgern oder Kommunen, sich an der Finanzierung der meist für den Anwender zu teuren technischen Lösungen zu beteiligen, genannt werden. Prof. Weber schloss mit Forderungen an die Praxis und an Forschung und Entwicklung, z.B. partizipative Technikentwicklung, Standards zu fordern und selbst einzuhalten, dass NutzerInnen wichtig sind und NutzerInnen nicht alle „gleich sind“ – um nur einige wenige zu nennen.
Das Fazit zu dieser Veranstaltung: Wir hatten tolle Referenten – vielen Dank nochmal an alle Vortragende – und wir hatten sehr interessierte Teilnehmer und neue interessante Kontakte. Das Thema ist und bleibt herausfordernd – aber wir sind auf dem Weg zu einer besseren und bewältigbaren Pflege durch und mit Hilfe der Digitalisierung.